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09/24

Ausrutscher im steirischen Vulkanland

Ausrutscher im steirischen Vulkanland
Foto: Shutterstock

Ein halb verpatzter Familienurlaub in einem sündhaft teuren Hotel, Familienmitglieder, deren Wünsche nicht weiter auseinanderklaffen könnten, und ein Upgrade vom Gott aller Teenagerträume: Was mich mein allererster Wellnessaufenthalt gelehrt hat und was selbst Fünfsternehäuser nicht bieten können.

Die Katastrophe war praktisch vorprogrammiert. Eine siebenköpfige Familie reist in den 1990er-Jahren ins steirische Thermenland. Mit dabei: zwei ausgelaugte Eltern und fünf Töchter zwischen zwei und 17 Jahren. Sie bringen Ansprüche an einen Urlaub mit, die sich nicht einmal in dieselbe Galaxie zwängen lassen. Schon gar nicht in ein Fünfsternehaus an heilend heißen Wasserquellen. Der Vorfreude tut das vorerst keinen Abbruch. Nachdem wir vorab nicht über den anstehenden Familienurlaub sprechen, steigert sich jede/r in die ganz eigene idyllische Traumwelt hinein und malt sich aus, wie herrlich die Tage im grünen Herzen Österreichs aussehen werden.

Dekadenz statt Demut und die fehlende Erfahrung

Als 17-Jährige fühle ich mich fast ein bisschen dekadent, weil wir in so einem noblen Hotel absteigen. Dass der Urlaub etwas „ganz Besonderes“ ist, erläutert uns der Herr Papa ja schon seit Wochen. An diesem Punkt nervt das schon reichlich. Die Gedanken an wohltuende Kosmetikbehandlungen, entspannende Massagen oder cooles Herumlungern an diversen Pools übertönen aber die Ermahnungen der Eltern, diesen – vielleicht letzten – gemeinsamen Familienurlaub bitte ja schön wertzuschätzen. Wir älteren Töchter fühlen uns viel zu cool, um wegen der Summen, die für so einen Aufenthalt bezahlt werden müssen, ehrfürchtig zu werden.

Erst viele Jahre später, als Erwachsene mit eigenen pubertierenden Kindern, kann ich nachvollziehen, was meine Eltern damit meinten. Was es bedeutet, sich mit dem Urlaubsbudget ein wenig weiter hinauszulehnen, als man es üblicherweise tut. Und wie lang man in Wirklichkeit arbeiten muss, damit das Geld zum Urlaubfahren reicht. Ja, irgendwie waren wir undankbare Gören ohne echten Bezug zu Geld und der dazugehörigen Plagerei beim Erwirtschaften. Andererseits ist es nicht die Aufgabe der Kinder, die Entscheidung für Urlaube zu treffen. Woher die Erfahrung nehmen, wenn man noch keinen Tag im Leben gearbeitet hat?

Wölkchen am Stimmungshimmel und der Gott der Teenagerträume

Die ersten Illusionen zerplatzen schon am Parkplatz bei der Ankunft in der noblen Residenz. Wir zögern ein paar Augenblicke zu lang und bestaunen das Hotel, als uns der Vater schon hinterherruft, dass er sicher nicht allein für das Autoausräumen zuständig ist. „Gibt’s hier keinen Butler, der uns das Taschenschleppen erspart?“, frag ich mich still und unwissend. Doch streng erzogen, wie wir Mädchen sind, schultern wir brav unser Gepäck und befördern es bis in unsere Zimmer. Ohne Murren, aber mit leicht finsterer Miene. Graue Wölkchen ziehen am Stimmungshimmel auf und trüben das tiefe Blau.

Die ersten Tage verlaufen ganz nach Teenager-Plan: schlemmen an diversen Buffets von früh bis spät, mit den Kopfhörern des Discmans die Ohren zustöpseln und am Pool an der Bräune arbeiten. Zu unserer absoluten Begeisterung zieht eine Zweitliga-Fußballmannschaft aus dem Ländle für ihr Trainingslager in unser Hotel ein. 20 durchtrainierte junge Herren, die bestens gelaunt jede Gelegenheit zum Flirten nutzen – der Gott aller Teenagerträume hat unsere Gebete nicht nur erhört, sondern upgegradet.

Kurze Zündschnüre und Familienharmonie auf Befehl

Die Zündschnur meiner Eltern wird indes aus mir unerklärlichen Gründen immer kürzer. Die Jüngste ist im Urlaub leider genauso aufgeweckt wie daheim, die Nächte in fremden Betten nicht erholsamer und die Unterstützung von uns älteren Schwestern bei der Kinderbetreuung erfolgt nur auf Befehl. Ansonsten legen wir uns beim Baden so weit wie möglich von den Erziehungsberechtigten weg. Dass wir vortäuschen, ohne Familie unterwegs zu sein, zerschmettert ihre Vorstellung vom harmonisch-familiären Zusammensein im Luxusresort auf besonders schmerzliche Weise.

„Dass fünf Sterne selbst im feudalsten Hotel noch keine Zufriedenheit und Familienharmonie garantieren, ist eine Lernerfahrung, die länger bleibt als der Erholungseffekt des Urlaubs.“

Fünf Sterne ohne Familienharmonie

Knapp zwei Jahrzehnte später lachen wir noch immer herzhaft über diesen Urlaub und wie sehr er in die Hose ging, obwohl am Papier alles wie am Schnürchen klappte. Vieles an dieser Auszeit war gut gemeint. Unsere Eltern wollten sich selbst UND uns einen unvergesslich schönen Aufenthalt bescheren. Wellness entwickelte sich Mitte der 90er-Jahre zum Urlaubstrend, und endlich konnten wir uns das auch leisten. Dass fünf Sterne selbst im feudalsten Hotel noch keine Zufriedenheit und Familienharmonie garantieren, ist eine Lernerfahrung, die länger bleibt als der Erholungseffekt des Urlaubs.

Voller Vorfreude kippen wir Menschen ganz unbewusst in das innere Malen von Bildern. Wir stellen uns vor, wie etwas sein wird, und aktivieren dabei alle Sinne im Voraus. Träumen davon, wie köstlich das Essen schmecken wird, wie entspannt wir mit Buch auf der Liege relaxen werden oder wie harmonisch und glücklich wir Abenteuer miteinander erleben. Das Ding ist: So lang wir nicht alleine wegfahren, sind andere Menschen dabei, die andere Dinge träumen.

Fünf Tipps, damit der Traum vom Urlaub nicht zum Alptraum mutiert:

  1. Erwartungen aussprechen: In einer Gesprächsrunde vor dem Reiseantritt darf jede/r erzählen, was er oder sie sich von dieser Zeit wünscht und erhofft. Das schafft sehr viel Klarheit und bringt Licht ins Dunkel im Land der Missverständnisse.

  2. Unterschiede anerkennen: Gegensätzliche Wünsche werden vorkommen und sind völlig natürlich. Niemand liegt aufgrund dieser Hoffnungen richtig oder falsch – sie sind lediglich Ausdruck der vorhandenen Bedürfnisse, die gehört werden wollen.

  3. Individualität zulassen: Auch im Urlaub ist es fein, nicht andauernd aufeinanderzukleben. Jede/r darf auch Raum für individuelle Interessen einfordern, die von anderen unterstützt werden. Dabei gilt grundsätzlich: Gleiches Recht für alle. Kleine Kinder (je jünger, desto mehr) haben Vorrang, da sie Bedürfnisaufschub entwicklungsbedingt nicht in vollem Umfang bieten können.

  4. Schnittmengen finden: Sich auf die Suche nach Gemeinsamkeiten machen – wenn auch nur für bestimmte Zeitfenster – ist etwas Verbindendes. Für die Familie darf man gern das Ego runterschrauben und es dem großen Ganzen unterordnen. Im besten Fall macht es echten Spaß. Im ungünstigsten Fall zahlt man in ein System ein, von dem man früher oder später wieder unterstützt werden will. Win-win also.

  5. Gemeinsam bestimmen: Jeder Plan wird deutlich besser mitgetragen, wenn man beim Erstellen mitgestalten darf. Einbinden darf man alle Personen, die teilnehmen – auch Kinder (je nach Alter und Entwicklungsstand). Wer sich einbringt, wird gehört. So werden Kompromisse gefunden, auch wenn Erwachsene die Verantwortung und Führung behalten. Zeigt jemand kein Interesse, sollte man bewusst machen, dass er oder sie dann automatisch den Plänen anderer zustimmt. (Falls dann später unangenehme Gefühle auftauchen: akzeptieren und trotzdem beim Plan bleiben.)

Gipfel der Peinlichkeiten, eine Prise Platzangst und das Ende der Urlaubsflirts

Mit einem Stutenmilchwickel zu zweit machen meine Schwester und ich unsere erste Beauty-Behandlungserfahrung. Ich brauche wohl nicht zu erläutern, wie unangenehm es war, mich mit knapp 17 Jahren nackt beziehungsweise in schickem Wegwerftanga einer Dame zu präsentieren, die mich – neben meiner Schwester – mit für mich grässlich riechender Pferdemilch einbalsamiert. Wie eine Mumie in weiche, heiße Handtücher eingehüllt, erklimmen wir in 20 Minuten, in denen das Schönheitselexier in unsere Haut einzieht, den Gipfel der Peinlichkeiten. Seither ahne ich überdies, wie es Menschen mit Platzangst geht. So eng waren wir eingewickelt.

„Mit ein wenig Abstand sehen die Dinge, wie so oft, anders aus. Wir haben als Familie in dieser Besetzung nie wieder einen Urlaub gemacht, können aber herzhaft darüber lachen.“

Definitiv erleben wir bei diesem Thermenaufenthalt zu viel Nähe. Auch das ist ein Klassiker, warum es im Urlaub besonders oft kracht, obwohl es die schönste Zeit im Jahr sein soll. Im Alltag gehen wir – selbst als Paar oder in der Familie – gewisse getrennte Wege. Diese entfallen, wenn man auf Reisen ist, und erzeugen daher zusätzlichen Stress. Was vorbeugt oder entgegenwirkt? Sich Allein-Zeit einräumen und sich dabei gegenseitig unterstützen, statt anprangern. Danach genießt man dafür die gemeinsamen Aktivitäten, wie auch immer die aussehen mögen, wieder intensiver.

Zur völligen Empörung meiner Eltern haben die unterhaltsamen Fußballer die Festnetznummer von zuhause erflirtet. Ihr Versprechen: uns mal Gratiskarten für ein Meisterschaftsspiel in Bregenz zukommen zu lassen – mit Party im Anschluss versteht sich. Weit weg von den prüden Aufsichtspersonen auf beiden Seiten. Obwohl sie tatsächlich ein paar Wochen später anrufen, kommt es nie zum versprochenen Besuch. Heute denke ich mir: Gott sei Dank. Urlaubsflirts sind nämlich kaum alltagstauglich.

Mit ein wenig Abstand sehen die Dinge, wie so oft, anders aus. Wir haben als Familie in dieser Besetzung nie wieder einen Urlaub gemacht, können aber herzhaft darüber lachen. Nach wie vor jagen uns die Fotos kalte Schauer über den Rücken – wegen Frisuren, Bikinis und Gesichtsausdrücken.

Gelernt habe ich jedenfalls viel, und wir machen als Familie heute einiges anders. So konnten wir kürzlich einen Trip über den großen Teich harmonisch und in einem großteils wunderbaren Miteinander erleben. Natürlich sind mal die Fetzen geflogen. Grundsätzlich aber war es ein aufregender und gelungener Urlaub. Kein Ausrutscher im steirischen Vulkanland.

Foto: Marie Bleyer

Kerstin Bamminger

Psychologische Beraterin, Elementarpädagogin & Supervisorin

Web: www.kerstinbamminger.com
Mail: [email protected]
Instagram: @die.beziehungsweise

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  • Veröffentlicht: 16.09.2024
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