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09/24

Beziehungskiller Zeitmangel

Beziehungskiller Zeitmangel
Foto: Pexels / Ketut Subiyanto

Der dichte Alltag setzt unseren Beziehungen zu. Meine Familie ist da keine Ausnahme. Welche fünf Gedanken ich mir selbst auf einen Notizzettel schreibe, um dem entgegenzuwirken – und warum es weniger Termin-Tetris und mehr Ta-daa-Listen braucht.

Unsere NachbarInnen halten uns wahrscheinlich für verrückt, so oft wie die BewohnerInnen dieses Hauses kommen und gehen. Kaum fährt das Auto in die Garage hinein und spuckt ein müdes Familienmitglied aus, springt ein weiteres in den fahrbaren Untersatz und parkt mit einem flüchtigen Blick auf die Uhr aus. Wir sind die Grand Central Station unserer Kleinstadt. Durchgetaktet und minutiös geplant, damit es zu keinen Kollisionen kommt. Das lässt erahnen, wie unsere Terminkalender aussehen.

„Ich bin kein Hamster im Rad, sondern einer auf Adrenalin in der ‚Kingda Ka‘, der schnellsten Achterbahn der Welt.“

Ich frage mich, wie sehr ich Sklavin meiner Kalendereinträge bin. Klar, nicht jeder Eintrag ist eine lästige Verpflichtung. Im Gegenteil. Insgesamt hält es sich meinem Empfinden nach in guter Balance. Doch das Gefühl, gestresst zu sein, zu wenig Zeit zu haben und alles nur knapp hinzubekommen, begleitet mich fast ständig. Ich bin kein Hamster im Rad, sondern einer auf Adrenalin in der „Kingda Ka“, der schnellsten Achterbahn der Welt. Auch wenn das manchmal ein Kick ist – langfristig leidet nicht nur meine Lebensqualität, sondern besonders meine wichtigen Beziehungen.

Termin-Tetris und Ta-daa-Listen

„Wenn du deine Schwester abholst, nimm bitte das Paket von der Post mit und laufe schnell in den Supermarkt, wir haben keine Milch mehr daheim!“, rufe ich der Erstgeborenen in die Garderobe nach. Während ich mich still lobe, daran gedacht zu haben, verfrachte ich ein paar Punkte von meiner inneren To-do-Liste auf die Ta-daa-Liste. Der Ort, wo ich geschaffte Aufgaben aufliste. Ich freue mich über einige Minuten gewonnener Zeit zum Arbeiten. Geschickte Planungsmanöver fühlen sich an wie Tetris spielen. Wenn ich Aufgaben, die Zeit brauchen, klug platziere, fällt eine Reihe weg, und mein Körper belohnt mich mit einer Dosis Dopamin. Meist erhöht sich dadurch aber leider – wie bei Tetris – das Tempo der anfallenden Aufgaben.

„Die Idee, dass ich alles gleichzeitig haben kann, wenn ich mich nur genug anstrenge, ist eine der fiesesten Lügen der modernen Gesellschaft.“

Die „Alles ist möglich“-Lüge

Kaum ein Lebensbereich ist nicht vom Drang nach Optimierung betroffen. Überall bekomme ich subtil vermittelt, dass es noch besser, effizienter und erfolgreicher geht. Das beginnt bei der Businessstrategie, geht bei der Begleitung unserer Minderjährigen weiter und reicht bis zur ertragreichen Bepflanzung meiner Hochbeete. Alle diese Dinge liegen mir am Herzen. Ich möchte mich bemühen, mich anstrengen und investieren, damit ich zufrieden sein kann. Zurückschrauben, mich mit weniger zufriedengeben oder suboptimal entscheiden, fällt mir in vielen Bereichen schwer. Obwohl ich merke: Auch mein Tag hat nur 24 Stunden. Das geht sich nicht aus. Die Idee, dass ich alles gleichzeitig haben kann, wenn ich mich nur genug anstrenge, ist eine der fiesesten Lügen der modernen Gesellschaft.

Es ist der Fluch unserer Zeit. „Wir sind keine Leistungsgesellschaft, sondern eine Erfolgsgesellschaft!“, meinte eine Trainerin kürzlich im Rahmen einer Fortbildung. „Wir sind gar nicht mehr zufrieden mit unserem Tun, wir müssen auch erfolgreich dabei sein“, führt sie aus. Still nickend und mit aufgerissenen Augen lasse ich die Aussage in mir sickern. Ja, so fühlt sich das an. Wir würdigen keine Anstrengungen, sondern Erfolge und feiern diese so überschwänglich, dass jeder, der nicht dasselbe erreicht, enttäuscht danebensteht.

Gesucht: Lichtblicke im Kalender

Ich erwische mich dabei, wie ich im Kalender nach vorne blättere. „Wann wird es wieder ruhiger?“, ist die stumme Frage in meinem Kopf. Ich finde einen Lichtblick, doch eine leise Stimme in mir flüstert: „Da ist der Kalender nur leerer, weil es noch weit weg ist. Kommt die Kalenderwoche näher, wird es auch hier voll.“ In dem Moment wird mir bewusst, dass ich wohl selbst das Ruder in die Hand nehmen darf, wenn ich mir mehr Zeit für das wünsche, was mir wichtig ist. Zeit kann ich nicht vermehren. Doch ich will mir überlegen, wie ich damit sorgfältiger umgehe. Und so schreibe ich mir selbst eine Notiz mit fünf Gedanken.

Notiz an mich:

  1. Mut zur Lücke

Ich will bewusst Dinge auslassen oder zu manchem Nein sagen. Ausnahmsweise nicht beim Schulfest aushelfen, um in Ruhe die Urlaubsvorbereitungen zu erledigen. Das Hochbeet nicht voll bepflanzen, weil es mich stresst, wenn es verwildert, weil ich nicht zur Gartenarbeit komme. Den Haushalt liegen lassen und ein paar Minuten mehr mit meinem kleinen Neffen verbringen. Viele Dinge kann ich nicht frei entscheiden. Ich will die Gelegenheiten nützen und mir in Erinnerung rufen, was mir wirklich wichtig ist im Leben: Zeit mit meinen Lieben zu haben.

  1. Fokus auf das Gute

Ich habe so ein fantastisches Leben. Meine Arbeit macht mir Freude, die Familie ist gesund, und wir leben in einem friedlichen Teil dieses Planeten. Mich bewusst in Dankbarkeit zu üben, erdet mich und minimiert gleichzeitig immer wieder den Druck nach dem Höher, Schneller, Weiter und Mehr, der mich und unsere westliche Gesellschaft so antreibt. Auch wenn wir uns in unserer Familie oft die Klinke in die Hand geben, haben wir tragfähige Bindungen zueinander. Sie halten ganz schön viel aus, und darauf kann ich auch stolz sein.

  1. Qualität vor Quantität

Zeit ist tatsächlich manchmal Mangelware, wenn Tage so durchgetaktet sind. Oft ist es mehr ein Nebeneinanderher als ein gemeinsames Miteinander. Ich will mir vornehmen, besonders in stressigen Phasen des Alltags die kurzen Fenster, die wir haben, zu nützen. Statt leblosem Nebeneinandersitzen und Scrollen vor diversen Bildschirmen eine Umarmung mit allen Sinnen genießen. Ein kurzes, zugewandtes, interessiertes Gespräch und sich dann selbst Rückzug gönnen. Mir die Frage „Wie machen wir’s uns schön?“ stellen und dabei unkompliziert und pragmatisch in der Umsetzung sein.

  1. Genießbar bleiben

Im ewigen Leisten und Erfolgreichsein vergesse ich oft, dass es im Leben vor allem darum geht, es zu genießen. Allein oder mit Menschen, die mir wichtig sind. Erfolg, besonders auch finanzieller, ist ein Transportmittel zu diesem Ziel, aber niemals das Ziel selbst. Letztlich geht es für mich darum, möglichst oft mit allen Sinnen im Jetzt zu sein. Menschen zu sehen, den Wald zu riechen, sich ein gemeinsames Essen schmecken zu lassen. Genießen geht nur langsam. Wenn ich das verlerne, werde ich ungenießbar. Ich darf intensive Leistungsphasen genießen, aber auch das Langsamsein und Nichtstun. Das ist mein stiller Protest gegen die Erfolgsgesellschaft.

  1. Der einzig gültige Vergleich

Der Vergleich macht nicht sicher, sondern unglücklich. Gleichzeitig tappe ich als Mensch auch in die Falle des Messens und Bewertens – aus dem Wunsch heraus, Orientierung und Sicherheit zu gewinnen. Andere Menschen haben andere Umstände, also will ich mich mit der einzigen Person vergleichen, die Sinn macht: mit mir selbst. Wie habe ich mich entwickelt? Bin ich zufriedener geworden? Was habe ich dazu gelernt? Ich bemerke nämlich: Je mehr ich mich mit anderen vergleiche, desto weniger gelingt es mir, meine Lebensqualität zu schätzen, den Fokus auf das Gelungene zu richten und meine Unvollkommenheit anzuerkennen.

„Es ist nicht zu wenig Zeit, die wir haben. Es ist zu wenig Zeit, die wir nützen.“ So lautet ein berühmtes Zitat. Nicht im Sinne optimalerer Nutzung oder besserer Effizienz, sondern für die höhere persönliche Zufriedenheit appelliere ich an mich selbst: Überlege dir, wodurch dein Leben glücklicher, gelassener und gelungener wird. Und dann geh und schenke deine Zeit. Sei so präsent wie möglich bei dem, was du tust. Erledige deine Pflicht, so gut es geht, und genieße die Kür mit allen Sinnen. Das macht dein Leben erfreulicher und dich zu einem besseren Menschen als gestern – und davon profitieren alle Beziehungen. Die zum Partner, deinen Kindern, FreundInnen und KollegInnen.

Und wenn es nicht klappt: nicht ärgern, nur wundern! Ich höre das Garagentor aufgehen. Die Tochter stapft mit Paket und Milch unter ihrem Arm und der Schwester im Schlepptau in die Küche. Wir beginnen gemeinsam zu kochen und plaudern über den bisherigen Tag. Plötzlich reißt mich das Klingeln meines Telefons aus dem Tun. Der Jüngste ruft an und bittet um einen Taxidienst, da er den Bus versäumt hat. Also düse ich drei Minuten später wieder aus der Garage. Die NachbarInnen dürfen sich gerne wundern.

Foto: Marie Bleyer

Kerstin Bamminger

Psychologische Beraterin & Elementarpädagogin

Web: www.kerstinbamminger.com
Mail: [email protected]
Instagram: @die.beziehungsweise

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  • Veröffentlicht: 20.08.2024
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