Alle böse, alle rücksichtslos? Nein, sagt Sina Haghiri und überzeugt nicht nur Frau Knöll vom Gegenteil.
Frau Knöll und die Sicht auf die Welt
Frau Knöll kommt uns gleich auf den ersten Buchseiten entgegen: frustriert und überzeugt, dass Menschen heute nicht mehr rücksichtsvoll seien und nicht im Stande oder willens seien, empathisch zu reagieren. Vom Autor bekommt sie die Aufgabe, mit einem Klicker zu klicken, sobald jemand empathisch reagiere: Sie kommt auf 44 Klicks in der rechten Hand; in der linken Hand hat sie die unhöflichen Menschen „geklickt“, hier sind es sechs Klicks. Nicht nur Frau Knöll ist von diesem Ergebnis überrascht.
Das Buch liefert viele Belege von Menschen, die aufgrund der Überprüfung ihrer „Glaubenssätze“ erkannten, dass sie einem Irrtum aufsitzen, wenn sie meinen, man könne seinen Mitmenschen nicht vertrauen. Wenig überraschend widmet Haghiri den sozialen Medien und deren Nutzung ausreichend Raum, um Möglichkeiten für das Gute zu erkennen und die Gefahren der Hetze sofort zu entdecken. So erzählt er die Geschichte eines älteren afghanischen Patienten, der vielen Schwurblern folgte und wenig positive Accounts in seiner Timeline hatte.
„Er begann Inhalten zu folgen, die ihn tatsächlich weiterbrachten, also einen langfristig produktiven Effekt hatten und nicht nur kurzfristig seine Aufmerksamkeit triggerten. Er ignorierte und entfolgte Inhalte, deren Auswirkungen er langfristig nicht in Kauf nehmen wollte.“
Dieses Buch geht in die Tiefe und hält seinen LeserInnen einen Spiegel vor: Warum hat man für das eigene Fehlverhalten so schnell Gründe oder Entschuldigungen? Ja, stimmt, man ist bei Rot über die Kreuzung gefahren und ja, man hat die Aufgabe etwas zu spät erledigt, aber man war eben gestresst oder hatte einfach zu viel zu tun. Diese „Gnade“ könnte man auch bei seinen Mitmenschen walten lassen und versuchen, zu verstehen, dass auch sie gestresst sind und nicht böse.
„Nachsicht zu trainieren, bedeutet, Empathie und soziale Intelligenz auszubilden. Also eigene und fremde Gefühle zu erkennen oder zu regulieren, sich in andere hineinzuversetzen und den Standpunkt des Gegenübers tatsächlich zu verstehen.“
Was Sie versäumen, wenn Sie diesen differenzierten Ratgeber nicht lesen:
Einblicke in menschliche Verhaltensweisen, Motivation zur Selbstreflexion, Impulse, in Stresssituationen ausgewogen zu reagieren.
Sina Haghiri:
ist Psychotherapeut und als solcher ambulant und in Kliniken tätig. Sein Podcast „Die Lösung“, den er mit Verena Fiebiger moderierte, war einer der erfolgreichsten Podcasts in Deutschland. Als Autor von Sach- und Fachbüchern ist er zudem sehr erfolgreich, pflegt einen empathischen Stil und spricht seine LeserInnen gekonnt an.
Sina Haghiri:
Mit Nachsicht.
Wie Empathie uns selbst und vielleicht sogar die Welt verändern kann.
München: Kösel Verlag 2024.
Christina Repolust
Ihre Leidenschaft zu Büchern drückt die promovierte Germanistin so aus: „Ich habe mir lesend die Welt erobert, ich habe dabei verstanden, dass nicht immer alles so bleiben muss, wie es ist. So habe ich in Romanen vom großen Scheitern gelesen, von großen, mittleren und kleinen Lieben und so meine Liebe zu Außenseitern und Schelmen entwickelt.”
www.sprachbilder.at
