Aktuelle
Ausgabe:
Zeit
07-08/24

Ein Putenstreifensalat als Sexgespenst

Ein Putenstreifensalat als Sexgespenst
Foto: Shutterstock

Von peinlich berührt zu souverän locker: Nicht immer war mein Umgang mit dem Thema Sex so ungezwungen wie heute. Wie es zu dieser persönlichen Entwicklung kam, welche Frage jedes Paar besprechen sollte und was die Bestellung eines Putenstreifensalats mit sexuellen Wünschen zu tun hat.

Erdloch, tu dich auf. Mein gesamter Kopf leuchtet wie eine hochrote Tomate, mein Puls ist auf 180 und ich fühle den kalten Schweiß an meinen Händen. So ein peinliches Thema kann man doch nicht einfach in einer Schulklasse behandeln! Und erst recht will ich als 13-jährige Schülerin keine pikanten Fragen dazu gestellt bekommen.

Eine Welle aus Scham und Peinlichkeit

Was genau ich in dem Moment beantworten soll? Ich habe keine Ahnung. Der Sexualkundeunterricht in der Hauptschule ist schon Jahrzehnte her. Mein Schock darüber, diverse Begrifflichkeiten im Klassenverband hören und besprechen zu müssen, scheint meine Erinnerung daran eliminiert zu haben. Was ich aber noch blendend abrufen kann, sind meine damaligen Gefühle. Lange Zeit trägt mich allein der Klang des Wortes mit drei Buchstaben in einer Welle von Scham, Unwohlsein und Peinlichkeit davon. Und ich spreche nicht von der Ehe.

Wie viele Kinder lerne ich den ungezwungenen, natürlichen und unbeschwerten Umgang rund um die schönste Nebensache der Welt nicht – und schon gar nicht, darüber befreit zu reden. Gehorsam, schüchtern und unsicher bin ich obendrein.

Lockere Erwachsene oder verklemmte BiologieschülerInnen?

Ein Vierteljahrhundert später stehe ich vor gut 20 Menschen und leite einen Kurs. „Nächster Block: Zärtlichkeit, Erotik und Sexualität. Wir starten mit einer Gruppenübung!“, kündige ich im Partnerkurs an. Einige rutschen mit weit aufgerissenen Augen tiefer in ihre Sessel. Anderen entlocke ich einen kurzen Lacher. Ich weiß, das ist ein bisschen gemein. Gleichzeitig checke ich damit das Stimmungsbarometer. Sind die anwesenden Erwachsenen offen und aufgeschlossen oder verklemmt und unsicher wie ich damals im Biologieunterricht?

„Wenngleich wir in einer übersexualisierten Gesellschaft leben, herrscht eine große Sprachlosigkeit darüber, was hinter verschlossenen Schlafzimmertüren passiert.“

Hinter verschlossenen Schlafzimmertüren

Nur durch viel Geduld und Übung gelingt es mir heute, mit so viel Offenheit, Authentizität und Unbeschwertheit an dieses Thema heranzugehen. Aus einem absoluten Peinlich-Berührtsein eine Begeisterung entwickeln? Kann ich. In unzähligen Erwachsenenfortbildungen genieße ich es, Zärtlichkeit, Erotik und Sexualität als thematischen Schwerpunkt zu erarbeiten. Denn Fakt ist: Wenngleich wir in einer übersexualisierten Gesellschaft leben, gibt es eine große Sprachlosigkeit darüber, was hinter verschlossenen Schlafzimmertüren passiert. Und eine ganze Liste an Mythen, die sich darum ranken.

Im Kindergarten ist die sexuelle Entwicklung ein völlig normaler Teil der Bildungs- und Erziehungsziele. Das wissen die wenigsten Eltern. So wie wir Bewegung, Sprache und Sozialverhalten lernen und entwickeln, darf es auch mit Sexualität sein. Denn wir Menschen sind sexuelle Wesen. Unabhängig von unserem Alter, Beziehungsstatus oder Geschlecht.

Da taucht eine Frage im Plenum des Partnerkurses auf: „Stimmt das: Wer guten Sex hat, hat auch eine gute Beziehung?“ Während die zustimmenden Lacher leiser werden, erkläre ich, dass das eine nichts mit dem anderen zu tun hat. „Es gibt Menschen, die haben fabelhaften Sex und sind menschlich furchtbar zueinander. Andere Paare fühlen sich wie Seelenverwandte und lieben sich aufrichtig, aber die körperliche Liebe hat kaum Stellenwert. Wichtig ist immer, dass es für beide passt, wie es ist!“

Putenstreifen mit einer Prise Fassungslosigkeit

„Ja, genau“, meint ein eifriger Teilnehmer, „man muss halt einfach drüber reden!“ Auch dies ist ein Glaubenssatz, der leider falsch ist. Eigene Wünsche und Bedürfnisse auszudrücken, kann schnell zu Druck beim anderen Partner, bei der anderen Partnerin führen. Besonders, weil Sexualität ein sensibler und so intimer Bereich im menschlichen Leben ist. „Das lässt sich prima mit einem Putenstreifensalat erklären!“, erkläre ich. Fassungslosigkeit legt sich über die Gesichter meiner KursteilnehmerInnen.

„Du bestellst dir im Gasthaus einen Putenstreifensalat, weil du Gusto darauf hast. Er sieht lecker aus. Am Nachbartisch hat ihn vorhin jemand gegessen. Aber als er dir serviert wird, passt es nicht. Die Marinade ist zu salzig, das Fleisch zäh und die Panier völlig aufgeweicht. Niemand würde dir sagen: Du hast ihn bestellt, er muss dir jetzt schmecken!“ Und so ähnlich ist es, wenn wir von Lust, Erregung und Begehren auf sexueller Ebene sprechen. In jedem Moment darf man Nein sagen, wenn der Salat nicht mehr schmeckt.

Ghostbuster der Sexgespenster

Langsam sickert die Idee bei der Kursgruppe. Sexualität ist nicht nur ein vielschichtiges und komplexes Thema. Wir wollen damit Verbindung zueinander herstellen. Manchen Menschen gelingt es, ihr Band durch sexuelle Aktivität zu stärken. Andere Menschen müssen sich erst verbunden fühlen, um sich gut auf intime Körperlichkeit einzulassen. Da kommt der nächste Teilnehmer mit einer weit verbreiteten Annahme um die Ecke.

Paare ticken da manchmal gegensätzlich, „darum passiert es so oft, dass die Leute fremdgehen. Weil es daheim nicht passt!“ Ich fühle mich schon ein wenig wie ein Ghostbuster beim Einsaugen von Schreckgespenstern, als ich klar und deutlich sage: „Nein, auch das stimmt nicht.“ Menschen, die mit der eigenen Paarbeziehung unzufrieden sind, sind selbst verantwortlich. Niemand zwingt sie dazu, einen amourösen Abstecher zu machen. Das ist eine Entscheidung. Das kam schon in glücklichen Ehen vor, während andere zerrüttet sind, ohne dass jemand eine Affäre haben „musste“. Der freie Wille ist manchmal Fluch und Segen zugleich, nicht wahr.

„Zitat: Man darf und soll die körperliche Liebe und Zuwendung so erleben und verstehen, wie sie gemeint ist. Als Lustspender, Quelle der Lebensfreude und verbindendes Element in Beziehungen.“

Erinnerungen an Rimini

Um die Gruppe nicht völlig verunsichert zurückzulassen, fädle ich – nach weiteren anregenden Impulsen – einen versöhnlichen Abschluss ein. Man darf und soll die körperliche Liebe und Zuwendung so erleben und verstehen, wie sie gemeint ist. Als Lustspender, Quelle der Lebensfreude und verbindendes Element in Beziehungen. Natürlich hilft darüber reden. Und wer damit noch nicht begonnen hat, möge mit einer Frage beginnen, die ich jedem Paar ans Herz lege. Erzählt euch von einem Highlight aus dem gemeinsamen Liebesleben: „Weißt du noch, damals im Urlaub in Rimini?“

Während man in aufregenden, erotischen Erinnerungen schwelgt, wächst und wächst die innere Sicherheit. Sowie die Überzeugung, dass das Darüber-Reden womöglich einfacher ist als gedacht. Frei nach dem Motto: mehr von dem, was uns guttut, gefällt und Freude bringt. Weniger Sexgespenster, mehr Klarheit. Zumindest zwischen den eigenen Bettlaken.

Foto: Marie Bleyer

Kerstin Bamminger

Psychologische Beraterin & Elementarpädagogin

Web: www.kerstinbamminger.com
Mail: [email protected]
Instagram: @die.beziehungsweise

  • Teile mit:
  • Veröffentlicht: 04.07.2024
  • Drucken