Aktuelle
Ausgabe:
Nahrung
09/24

„Endometriose ist ein gesellschaftliches Thema“

„Endometriose ist ein gesellschaftliches Thema“
Foto: Nikolas Winkel

Mit Fakten und Gefühl nähert sich Ernährungsberaterin Nicole Heinze einer Erkrankung, die noch immer wenig erforscht ist: Endometriose. Wie man die Beschwerden mit Ernährung lindern kann und warum die Behandlung immer individuell ist, erzählt sie im Interview.

Vielen ist die Krankheit Endometriose noch immer unbekannt. Ist das so, weil es ein Frauenproblem ist?

Ja, auf jeden Fall. Deshalb mag ich die Arbeit mit Endometriosebetroffenen so gern: weil es ein gesellschaftliches Thema ist. Wir haben zu wenig Forschung zur Frauengesundheit, Themen rund um weibliche Sexualität werden gerne bagatellisiert, auch Schmerzen beim Geschlechtsverkehr, die häufig mit Endometriose zusammenhängen, werden ignoriert und kleingeredet – all diese Themen werden als schambehaftet unter den Teppich gekehrt, sodass sich keiner mehr rantraut. Das heißt: Wir haben auch noch viel gesellschaftliche Arbeit vor uns, damit die Endometrioseforschung weiter vorankommt.

Kann ich meine Ernährung präventiv verändern, wenn ich den Verdacht habe, an Endometriose zu leiden?

Grundsätzlich kann man sich mit Ernährung etwas Gutes tun – unabhängig von einer Diagnose etwa den Körper im Zyklus unterstützen. Man kann insgesamt antientzündliche Ernährung, also Ernährung, die viel obst- und gemüsebasiert ist, ausprobieren und für sich herausfinden, was guttut. Da hilft zum Beispiel ein Ernährungs- und Symptomtagebuch, um eine erste Orientierung zu bekommen – und auch, um eine Beziehung zum Körper (wieder-)herzustellen, dem Körper wieder besser zuzuhören. Wenn man aber wirklich den Verdacht hat, Endometriose zu haben, dann führt am Weg zu Ärztin oder Arzt nichts vorbei. Einfach aufgrund dessen, dass eine verzögerte Diagnose häufig mit Chronifizierung oder Schmerzen einhergeht und damit, dass die Herde sich ausbreiten und ein Kinderwunsch potenziell unerfüllt bleibt, weil es zu Komplikationen kommen kann.

„Endometriose ist eine sehr individuelle Erkrankung und so sind auch die Symptome.“

Bleibt Endometriose heute noch häufig unentdeckt? Oder wird sie standardmäßig abgeklärt?

Da ist noch so viel zu tun. Man sagt, dass eine von zehn Frauen betroffen ist. Wir nehmen aber an, dass die Krankheit viel, viel häufiger auftritt. Wie viele Betroffene es wirklich gibt, ist schwer zu sagen, denn wir haben eine Diagnosezeit von im Schnitt sieben Jahren. So lange kann die Krankheit unentdeckt bleiben und Frauen im Stillen darunter leiden. Wenn man überlegt, dass Endometriose schon mit oder sogar vor der ersten Menstruation einsetzen kann, also im Alter von zum Beispiel 13 Jahren, und erst sieben Jahre später diagnostiziert wird – was diese Jahre mit einem pubertierenden Menschen machen, ist enorm.

In Ihrem Buch geht es viel um das Wort „antientzündlich“. Ist das der Grundgedanke einer Diät bei Endometriose?

Der Grundgedanke dahinter ist, dass jede betroffene Person erst einmal ihre eigene Ernährung finden muss. Die Endometriose ist unglaublich individuell. Sie sitzt an unterschiedlichen Orten. Große Herde müssen nicht unbedingt große Schmerzen bedeuten, kleine Herde nicht unbedingt wenig Schmerzen – sie ist eine sehr individuelle Erkrankung und so sind auch die Symptome. In jedem Fall aber entstehen Entzündungsherde. Das heißt, wenn man den Fokus darauf legt, viele Nährstoffe über ganz normale Nahrungsmittel zu sich zu nehmen, hat man schon viel gewonnen. Obst, Gemüse, aber auch gesunde Fettsäuren wie aus Rapsöl, Leinöl oder Fisch helfen insgesamt dem Körper, gegen die Entzündung anzugehen und auch – wie einige Studien zeigen – die Schmerzen zu reduzieren.

„Kein Mensch baut ein Haus mit minderwertigen Baustoffen. Aber wir stecken genau diese minderwertigen Baustoffe in unseren Körper und gehen tagtäglich davon aus, dass er gut damit klarkommt.“

Was wären „No-Gos“ in der Ernährung bei Endometriose?

Was für alle gilt, ist, Alkohol in Maßen und nicht zu viele Transfette, also wenig frittierte oder stark verarbeitete Nahrungsmittel, in die Ernährung einzubauen, um potenzielle Entzündungen nicht weiter zu triggern.

Unterschätzen wir den Einfluss von Ernährung auf unsere Gesundheit und haben wir mit der Ernährung mehr Möglichkeiten, als uns bewusst ist?

Wir haben vor allem mehr Möglichkeiten, wenn wir wieder lernen, auf unseren Körper zu hören. Und Ernährung ist davon ein ganz, ganz großer Teil. Was die meisten von uns im Laufe unseres Lebens nicht lernen, ist, wie wir diesen Körper, der uns am Leben erhält, ohne den wir nicht da wären, nähren. Ohne das, was wir da hineingeben, könnten wir nicht existieren. Kein Mensch baut ein Haus mit minderwertigen Baustoffen. Aber wir stecken genau diese minderwertigen Baustoffe in unseren Körper und gehen tagtäglich davon aus, dass er gut damit klarkommt.

„Für mich ist immer ein guter Wegweiser, wie meine Oma sich ernährt hat.“

Welche Rolle spielt dabei die Genetik?

Manche Menschen ernähren sich ihr Leben lang ungesund und kommen ohne Probleme bis ans Ende ihres Lebens. Andere ernähren sich sehr gesund und erkranken trotzdem schwer. Da spielt die Genetik natürlich eine große Rolle. Trotzdem denke ich, wir können uns über die Ernährung etwas Gutes tun. Für mich ist immer ein guter Wegweiser, wie meine Oma sich ernährt hat: Da gab es viel Obst, Eintöpfe mit viel Gemüse, am Freitag Fisch und den Braten nur am Sonntag, Eier und Milchprodukte in Maßen. Es gab damals viel mehr Wertschätzung für Lebensmittel, es wurde viel regional und saisonal gegessen. Wenn wir etwas ursprünglicher an unsere Ernährung herangehen, tun wir uns einen großen Gefallen, unabhängig von der Genetik.

Ist Übergewicht ein Thema bei Endometriose?

Von Endometriose Betroffene sind selten übergewichtig. Der Großteil ist normalgewichtig, mit der Tendenz teilweise sogar Richtung Untergewicht. Es hängt aber nicht direkt zusammen, sondern eher insofern, dass Endometriose häufig mit Verdauungsbeschwerden einhergeht. Wenn man an Verdauungsbeschwerden leidet, isst man weniger oder anders und beschäftigt sich mehr mit seiner Ernährung.

Wie lange dauert eine Ernährungsberatung üblicherweise?

Ich plane in der Regel etwa fünf Termine ein – einmal eine Anamnese und in vier weiteren Terminen stellen wir die Ernährung um. Das ist dann eine Begleitung von bis zu einem Jahr.

„Die Ernährungstherapie ist meist multimodal mit unterschiedlichen Ansätzen.“

Wo sind die Grenzen dessen, was man mit Ernährung bewirken kann? Heilsversprechen können und dürfen Sie ja nicht machen, oder?

Nachdem Endometriose nicht heilbar ist, können wir sowieso keine Heilsversprechen machen. Aber ich sehe Ernährung als ein Rädchen in einer großen Maschinerie. Wenn ich eine Klientin bei mir in der Ernährungsberatung sitzen habe, die rund um die Arbeit unglaublich viel Stress hat, die vielleicht auch noch im Schichtdienst arbeitet, was den Zyklus auch noch durcheinanderbringt, ist dieses Rädchen viel, viel schwerwiegender und viel größer. Dann müsste dieses Rädchen viel eher angefasst werden, dann ist die Ernährung eher nur ein kleiner Faktor. Wenn man jemanden hat, der sonst wenig Stress und Einflussfaktoren von außen hat, ist das Thema Ernährung gewichtiger. Es ist also auch hier sehr individuell.

Wie weit kann man mit Ernährung helfen?

Ich habe in meiner Ernährungsberatungspraxis Fälle, die danach rausgegangen sind und keine Schmerzen mehr hatten. Ich muss aber auch dazu sagen, dass ich in meiner Ernährungsberatung nicht nur Ernährungsberatung mache. Ich gehe auch an andere Themen ran, bespreche auch, wie man Stress reduzieren kann oder welche anderen Änderungen Sinn machen – es ist immer ein ganzheitliches Herangehen. Die Ernährungstherapie ist meist multimodal mit unterschiedlichen Ansätzen.

Was würden sie sich von der Gesellschaft, vom Gesundheitssystem wünschen?

Mehr Geld für Endometrioseforschung. Und grundsätzlich mehr Bewusstsein für Frauenthemen in der Gesellschaft.

Zur Person:

Nicole Heinze ist Ernährungsberaterin mit Schwerpunkt Frauengesundheit. Nach ihrem Studium der Ernährungswissenschaften schloss sie einen Master in Public Health ab. In ihrer Masterarbeit beschäftigte sie sich mit Ernährung bei Endometriose, da ihre Dozentin selbst von der Krankheit betroffen war. Damit führte sie Endometriose und Ernährung zusammen. In ihrer Praxis in Hannover und online bietet sie Beratung und Coachings an.

Nicole Heinze:
Die beste Ernährung bei Endometriose.
Trias Verlag, € 24,50.

  • Teile mit:
  • Veröffentlicht: 01.10.2024
  • Drucken